„Jugend ist kein Verdienst“

Mit diesem Satz beginnt ein Zitat von Willy Brandt, dem ich voll und ganz zustimme. In den vergangenen Wochen passierte es meiner Lieblingsnachbarin und mir immer wieder, dass wir für deutlich jünger gehalten wurden, als wir sind. Wir beide sind übrigens nahezu gleichaltrig. Wenn wir vom Walken kommend schwatzend und kichernd an der Rezeption vorbeiflitzen, werden wir zuweilen höflich aufgefordert, uns anzumelden, unsere Kontaktdaten zu hinterlegen und Fieber messen zu lassen. Die Überraschung ist stets groß, wenn wir uns als Bewohnerinnen der Seniorenresidenz zu erkennen geben. Unsere Bewegungen, unsere Kleidung und das Aussehen allgemein lassen uns deutlich jünger wirken als es in einer Alteneinrichtung zu erwarten ist. Außerdem verdeckt der Mund-Nasen-Schutz, den wir fast als einzige tragen, gnädig die Fältchen im unteren Gesichtsbereich. Lachfältchen werden ja in nahezu jedem Alter toleriert. Der Paketbote hielt uns für Mitarbeiterinnen des Hauses und fragte uns nach dem Weg „…ihr schafft da ja…“. Warum freut es uns, für jünger gehalten zu werden? Was haben wir davon? Ich habe in diesem Fall nicht das Internet um Rat gefragt, sondern eigene Überlegungen angestellt.

Ich bin zu der These gelangt, dass es irgendwie in der Evolution, in der Entwicklung des Menschen begründet sein muss. Die Begriffe Jugend und Schönheit gehören eng zusammen. Womöglich, weil nur junge Menschen reproduktionsfähig sind? Weil wie in allen Wesen der Natur, Tieren und Pflanzen, die Erhaltung der Art das oberste Prinzip des Lebens ist? Wer uns jünger schätzt, spricht uns auch eine gewisse Attraktivität zu. Ist es nur Eitelkeit, wenn wir uns darüber freuen? Nein, ich glaube auch, dass es ein weiterer, unbewusster Mechanismus ist, der unsere Empfindungen steuert. Ein älterer Mensch ist dem Lebensende näher als ein junger Mensch. Ist es also auch letztendlich die Freude am Leben, die da aus uns spricht, wenn wir uns freuen, wenn wir jünger eingeschätzt werden? Sozuagen die Idee eines Aufschubs des unabwendbaren Endes irgendwann? Bei meinen Betrachtungen habe ich ausdrücklich eher „schmierig“ formulierte Komplimente generell ausgeschlossen. Die machen niemanden Freude.

Und hier das komplette Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt: „Jugend ist kein Verdienst. Alter ist kein Verdienst. Jugend ist ein Kredit, der jeden Tag kleiner wird.“

Bleibt gesund!